Eide sind ziemlich aus der Mode gekommen. Der Mensch des 21. Jahrhunderts schwört nur noch bei besonderen Anlässen: vor dem Traualter, vor Gericht oder auf die Verfassung, wenn er eine Stelle im Öffentlichen Dienst antritt.
Im Mittelalter hingegen waren Eide an der Tagesordnung – ohne sie hätte die christliche Gesellschaft nicht funktioniert. Ritter schworen ihren Lehnsherren Gefolgschaft, diese wiederum gelobten dem König oder Kaiser unverbrüchliche Treue. Wenn ein Handwerker in eine Bruderschaft oder Zunft eintrat, musste er einen Eid ablegen, den anderen Mitgliedern seiner neuen Gemeinschaft bis zum Tode beizustehen und sie bei Unglück, Krankheit und materieller Not zu unterstützen. Wenn Fernhändler zu langen Reisen aufbrachen, schlossen sie sich mit anderen Kaufleuten zusammen; man gelobte sich gegenseitig Brudertreue, bevor man in die Fremde aufbrach, denn man hoffte, die vielfältigen Gefahren der Reise so besser zu meistern. Verträge aller Art und Friedensschlüsse nach kriegerischen Konflikten wurden mit Eiden besiegelt. Die Bürger einer Stadt leisteten regelmäßig den Bürgereid und versicherten auf diese Weise, ihre Pflichten für die Gemeinschaft wahrzunehmen. Wer vor Gericht stand, sei es als Kläger, Beklagter oder Zeuge, musste seine Aussagen mit Schwüren untermauern und dabei zumeist seine Schwurfinger auf einen Reliquienschrein, ein Kruzifix oder dergleichen legen. Wer seinem Wort in einem Zivil- oder Strafprozess mehr Gewicht verleihen wollte, ließ Eidhelfer aufmarschieren und sie schwören, dass die getätigte Aussage der Wahrheit entsprach und der eigene Standpunkt rechtens sei. Je mehr Eidhelfer vor Gericht erschienen, desto höher die eigene Glaubwürdigkeit.
Unser modernes Leben ist umfassend geregelt durch eine Vielzahl von Gesetzen, Verordnungen und Verboten. Im Mittelalter existierte diese Flut von Vorschriften für alle Lebenslagen noch nicht; es gab das Kirchenrecht und überschaubare Gesetzeskataloge, die für eine bestimmte Region oder Stadt galten. Darüber hinaus hielt man sich an die Bibel sowie das Gewohnheitsrecht der Altvorderen und regelte die verschiedenen Rechtsverhältnisse in der oben geschilderten Weise mit Schwüren.
Was aber machte den Eid so wirkmächtig?
Die Gesellschaft des Mittelalters war in einem für uns heute schwer vorstellbaren Ausmaß vom christlichen Glauben geprägt und durchdrungen. Man kann davon ausgehen, dass jeder an Gott, das Jenseits und die biblischen Ereignisse glaubte; Agnostiker und Atheisten dürften sehr selten gewesen sein. Die allermeisten Menschen zweifelten nicht daran, dass ein allmächtiger Schöpfer die Geschicke auf der Erde lenkte. Nach dem Tod, so die verbreitete Gewissheit, lebte die Seele weiter und gelangte in den Himmel – oder in die Hölle. Man fürchtete sich tagtäglich vor den Qualen des Fegefeuers und war deshalb auf sein Seelenheil bedacht. Meineid und Eidbruch waren nicht nur abscheuliche Verbrechen, sie galten auch als schwere Sünde vor Gott. Wer sein Wort nicht hielt, gefährdete in hohem Maß sein Seelenheil und musste damit rechnen, zur Hölle zu fahren.
Hält man sich dies vor Augen, dürfte verständlich werden, warum man sich auf den Schwur seines Nächsten in den meisten Fällen verlassen konnte: Die Angst vor den jenseitigen Folgen eines Eidbruchs war groß – zumal auch im Diesseits unangenehme Konsequenzen drohten: Meineidige verloren ihr Bürgerrecht, wurden geprügelt und verjagt und mussten damit rechnen, dass man ihnen die Schwurfinger oder gleich die ganze Schwurhand abhackte sowie ihnen die Zunge herausriss. Für uns mag solch ein drastisches Vorgehen schwer nachzuvollziehen sein, man muss jedoch bedenken, dass der Eid eine Säule der mittelalterlichen Gesellschaft war. Wäre sie brüchig und instabil geworden, wären Chaos und Rechtlosigkeit die Folge gewesen.
Dieser Text ist Teil einer Artikelserie, die sich mit den historischen Hintergründen von Das Salz der Erde beschäftigt. Jede Woche erscheint ein neuer Artikel.
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